Liebe Leserinnen und Leser,
gestern wurde über das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Viertes Bevölkerungsschutzgesetz) im Deutschen Bundestag abgestimmt. Damit einher gehen Änderungen am Infektionsschutzgesetz, mit denen ein bundeseinheitlicher Rahmen gesteckt wird, die sogenannte Bundes-Notbremse.
Was beinhaltet die Notbremse? Zur Notbremse gehört, dass bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen und darüber das öffentliche Leben weitestgehend heruntergefahren wird: Private Zusammenkünfte werden begrenzt, Geschäfte und Einrichtungen müssen schließen und überall dort, wo Kontakte unvermeidbar sind, gelten strenge Hygienevorschriften. Eine nächtliche Ausgangsbeschränkung soll die Kontakte im privaten Bereich reduzieren. Eine Homeofficepflicht und eine Testangebotspflicht für Arbeitgeber:innen sollen das Infektionsrisiko am Arbeitsplatz minimieren. Schulen sollen so lang wie möglich offengehalten werden, um die Bildung aber auch die psychische Entwicklung der Kinder nicht zu gefährden. Aber auch hier müssen ab einer kritischen Inzidenz wirksame Maßnahmen ergriffen werden.
Seit über einem Jahr beschäftigen wir uns im Parlament mit der Eindämmung der Corona-Infektionen. Auch im Vorfeld dieser Debatte habe ich lange und intensive Überlegungen angestellt, Für und Wider abgewägt und mir meine Entscheidung, wie ich über diesen Gesetzentwurf abstimme, nicht leicht gemacht. Es war eine meiner schwersten Entscheidungen als Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Letztlich habe ich dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen – dieser beinhaltet Änderungen am Regierungsentwurf – zugestimmt. Meine Gründe möchte ich Ihnen im Folgenden gerne erläutern.
Mit dem Vierten Bevölkerungsschutzgesetz schreiben wir sehr tiefgehende Regelungen gesetzlich auf Bundesebene fest. Diese sind bis zum 30. Juni 2021 befristet – ein wichtiges Detail, um auch weiterhin stetig der Situation angepasste Entscheidungen in Bundestag und Bundesrat treffen zu können. Auch ich bin nicht glücklich damit, dass es zu diesem Punkt, an dem wir uns nun befinden, kommen musste. Leider haben die Erfahrungen der letzten Wochen gezeigt, dass die Entscheidungen der Konferenz der Ministerpräsident:innen und der Bundeskanzlerin nicht dazu geführt haben, dass wir ein bundesweit einheitliches Vorgehen bei der Pandemiebekämpfung haben. Einige Ministerpräsident:innen haben die Beschlüsse umgesetzt, andere sind davon abgewichen – aus welchen Gründen auch immer. Da das Infektionsgeschehen weiter zunimmt, die Todeszahlen steigen und die Krankenhäuser erneut Alarm schlagen, wurde gestern die Bundes-Notbremse als oberster Rahmen festgelegt. Die Länder können nach wie vor davon abweichende restriktivere Regelungen treffen. Dies begrüße ich vor allem vor dem Hintergrund des Umgangs mit den Schulen: Gemäß der Bundesnotbremse müssen die Schulen spätestens ab einem Inzidenzwert von 165 in den Distanzunterricht gehen. Möchten einzelne Bundesländer bereits ab einer Inzidenz von 100 oder 50 Distanzunterricht in den Schulen veranlassen, ist dies auch weiterhin problemlos möglich. Das gleiche Prinzip greift auch für „click and meet“ im Einzelhandel, für den der Inzidenzwert von 150 gilt. Diese Möglichkeiten machen noch einmal deutlich, dass die Bundes-Notbremse tatsächlich nur der letztverbindliche Rahmen ist, wenn die Bundesländer nicht bereits andere Maßnahmen ergriffen haben, um das Infektionsgeschehen einzudämmen. Wir haben in den unterschiedlichen Regionen auch unterschiedliche Situationen: Stadt vs. ländlicher Raum, demografischer Wandel, regional unterschiedliche Belegung der Intensivstationen. Und diesen Unterschieden muss auch weiterhin Rechnung getragen werden können – darauf habe ich sehr viel Wert gelegt.
Lassen Sie mich am Rande kurz etwas anmerken: Über Wochen und Monate hinweg wurde die Mitbestimmung des Bundestages gefordert. Die demokratische Legitimierung der Minsterpräsident:innenkonferenz wurde in Frage gestellt. Nun entscheidet der Deutsche Bundestag über Maßnahmen, die alle Bürger:innen betreffen und trotzdem mehren sich die kritischen Stimmen aus der Opposition und sie haben dem Gesetz nicht zugestimmt. Diese Haltung finde ich schwierig.
Aber zurück zu meiner Entscheidungsfindung. Weiterhin ist die Frage wichtig, wie mit den bereits geimpften Personen umgegangen wird. An dieser Stelle erachte ich es als unerlässlich, dass im Vorfeld einer solchen Debatte wissenschaftliche Grundlagen vorliegen müssen, ob geimpfte Personen noch ansteckend sein können. Sind sie dies nicht mehr, dann muss die Einschränkung der Grundrechte von geimpften Personen wieder aufgehoben werden, sobald jeder Bürgerin und jedem Bürger ein Impfangebot gemacht wurde. Dies kann in Form einer Verordnung geschehen. Diesen Verordnungen muss immer vom Bundestag, also auch von mir als Ihre Abgeordnete, und vom Bundesrat zugestimmt werden. Die fortwährende Beteiligung von uns demokratisch gewählten Bundestagsabgeordneten war mir stets sehr wichtig und ich bin froh, dass diese Punkte im Vierten Bevölkerungsschutzgesetz verankert wurden.
Ebenfalls Grundlage meiner Entscheidung ist die Wahrung des Föderalismus. Leider wird in diesen Tagen häufig behauptet, dass der Föderalismus oder gar unsere Rechtstaatlichkeit durch das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz ausgeschaltet wird. Das möchte ich entschieden verneinen. Wir als Bundestag stecken den Rahmen ab und die Länder können weitergehende Verordnungen erlassen. Wir sind als deutscher Bundestag legitimiert dazu diese Grundlage zu schaffen. Der Föderalismus wird durch dieses Gesetz nicht beschädigt. Im Gegenteil: Durch die Zustimmungspflicht des Bundesrates sind die Bundesländer mit dem Thema auch beschäftigt. Keiner zwingt die Bundesländer dem Gesetz im Bundesrat zuzustimmen, sie können ihre Entscheidung frei treffen. Insofern handelt es sich nicht um eine Aushebelung des Föderalismus, sondern um eine Stärkung. Und natürlich können die erlassenen Regelungen auch weiterhin gerichtlich überprüft werden. Von einem Ausschalten der Judikative war und ist an keiner Stelle die Rede.
Nicht zuletzt veranlassten mich die Verhandlungsergebnisse, die durch die SPD gegenüber dem Koalitionspartner durchgesetzt werden konnten, dazu, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Beispielhaft will ich hier zwei wichtige Aspekte nennen. Erstens wurde bei den Ausgangssperren nachgebessert. Zum einen gilt die nächtliche Ausgangssperre gemäß der Notbremse fortan erst ab 22 Uhr anstatt wie von der Bundesregierung vorgeschlagen schon ab 21 Uhr. Zum anderen ist bis 24 Uhr alleine Spazieren und Joggen gehen erlaubt. Diese Anpassungen finde ich sehr wichtig, denn auch Bürger:innen, die bis spät in den Abend hinein arbeiten, soll die Bewegung an der frischen Luft auf keinen Fall verwehrt werden. Das ist für viele derzeit ein, wenn nicht sogar der einzige Ausgleich zum Corona-Alltag und dieser darf nicht noch mehr eingeschränkt werden. Zweitens wird den Unternehmen die Homeoffice-Verpflichtung/-Empfehlung und die Testpflicht noch einmal deutlich gemacht. So reagieren wir auf unsere Beobachtungen, dass leider immer noch sehr viele Arbeitnehmer:innen morgens in den öffentlichen Verkehrsmitteln und sodann in vollen Büros sitzen. Das kann nicht Teil der Pandemiebekämpfung sein.
Die zuletzt angesprochenen Testungen halte ich für äußerst wichtig und lohnenswert, um der Bevölkerung ein Stück Sicherheit in ihrem Alltag zu geben. Ich gehe nicht davon aus, dass – wie es derzeit oft behauptet wird – durch das viele Testen Belege dafür geschaffen werden, die Beschränkungen zu legitimieren. Im Gegenteil: Durch das frühzeitige Erkennen der Infektion können Kontakte vermieden werden, was dann wiederum zu einer Eindämmung der Infektionszahlen führen kann. Daher appelliere ich an Sie alle: Nehmen Sie die kostenlosen Bürgertests wahr und suchen Sie die Teststationen in Ihrem Umkreis auf. Ich weiß, dass die Infrastruktur dahingehend gut ausgebaut ist in unserem Wahlkreis – dann sollten wir die Angebote zu unserem eigenen Schutz und dem unserer Mitmenschen auch annehmen.
Leider – und ich betone das ausdrücklich – hatte jedes Land, das die Mutante B.1.1.7 in den Griff bekommen hat, eine Zeit lang Ausgangsbeschränkungen. Diesen Fakt muss man einfach akzeptieren und es ist gut, dass wir Datengrundlagen aus anderen Ländern haben. Diese werden oft gefordert, um verschiedene Handlungsoptionen der Entscheidungsträger:innen abzuwägen.
Liebe Leserinnen und Leser, wir befinden uns immer noch in einem dynamischen Prozess und Entscheidungen müssen getroffen werden – auch wenn es mir mit dieser Entscheidung nicht besonders gut geht. Rückblickend werden wir bewerten können, was wir hätten besser machen können. Es gibt nicht die eine Wahrheit, natürlich müssen verschiedene Seiten angehört werden. Aber in die Zukunft schauen kann leider niemand von uns. Ich habe mich vor der Entscheidung oft gefragt, was passieren würde, wenn das Gesetz nicht durchginge. Leider fehlt die Alternative und das ist nicht akzeptabel in dieser brisanten Zeit der dritten Welle. Insofern erachte ich die gestern getroffene Entscheidung als das Maximale, das wir aus dieser Situation rausholen konnten. Wenn die Lage nicht so ernst wäre, hätte ich das gestrige Gesetz nicht unterstützt.
Ich wünsche Ihnen alles Gute, viel Kraft für die nächste Zeit und vor allem Gesundheit. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir diese Pandemie bald hinter uns bringen können.